Die Schule neigte sich dem Ende zu und wie alle meine Mitschüler stellte auch ich mir die Frage „Was nun?“ – Einen Studienplatz suchen oder doch lieber erst im Ausland einige Erfahrungen sammeln? Da ich noch unentschlossen war, welcher Studiengang der richtige für mich sein würde, entschloss ich mich für einen Auslandsaufenthalt. Doch nun stellte sich die nächste, weitaus schwierigere Frage: „Wohin sollte es gehen?“ Dass es etwas mit Kindern sein sollte, hatte ich bereits entschieden. Da ich jedoch zunächst keine sechs Monate oder gar noch länger weg wollte, kam ein Au-pair-Aufenthalt vorerst für mich nicht in Frage. Nach langen Internetrecherchen stieß ich auf eine Organisation, die es mir ermöglichte, drei Monate ins Ausland zu gehen.
„Praktikawelten“ bot mir ganze 17 Länder in Lateinamerika, Afrika, Asien, Nordamerika, Australien und Neuseeland zur Auswahl an. Südafrika und Ecuador zog ich in meine engere Wahl. Ich habe mich schon immer sehr für Sprachen interessiert. Daher beschloss ich, mit Spanisch eine weitere Fremdsprache zu erlernen, und so fiel meine Wahl auf Ecuador. Ecuador ist eine Republik im Nordwesten Südamerikas und liegt an der westlichen Pazifikküste des Kontinents zwischen Kolumbien und Peru. Ecuador ist nach dem Äquator benannt, der quer durch das Land verläuft.
Am 8. September 2010 hieß es Abschied nehmen. In Berlin stieg ich mit sehr gemischten Gefühlen in das Flugzeug, welches mich in meine neue Wahlheimat Ecuador bringen sollte. Ich war gespannt und freute mich natürlich auf die kommende Zeit in einem völlig unbekannten Land. Andererseits hatte auch Angst, mir zu viel vorgenommen zu haben. Die Kultur Südamerikas war mir völlig neu, da ich zuvor nie ein Land auf diesem Kontinent besucht hatte. Dazu kam noch, dass ich zunächst kein Wort Spanisch sprechen konnte. Dennoch verflog der Abschiedsschmerz schon während des Fluges und die Aufregung wuchs. In Ecuadors Hauptstadt Quito gelandet, wurde ich von einem Mitarbeiter der Organisation in Empfang genommen und in mein Apartment mitten im Herzen Quitos gebracht. Das Apartment teilte ich mit drei anderen deutschen Mädels. Da wir uns auf Anhieb super verstanden, hatte ich keinerlei Eingewöhnungsprobleme und das erwartete Heimweh blieb aus. In den ersten sechs Wochen belegte ich einen Spanisch-Intensivkurs. Das hat sehr viel Spaß gemacht und war ungemein nützlich. Schon nach einer Woche konnte ich mich relativ gut mit den dort lebenden Menschen verständigen. Die Leute begegnen sich meist mit einem „Hola, como estas?“, erwarten aber eigentlich keine Antwort. Die ersten Sätze, die ich beherrschte, begannen mit „Me gusta Ecuador porque …“ („Ich mag Ecuador, weil…“), da ich von so ziemlich jedem Ecuadorianer gefragt wurde, ob und wieso mir sein Land gefalle.
Die zweite Hälfte – noch einmal sechs Wochen – widmete ich voll und ganz den Kindern eines Kindergartens. Mit ihnen hatte ich viel Spaß: Wir malten, bastelten und spielten auf dem Spielplatz. Sie nannten mich „Wieka“, weil sie sich meinen Namen einfach nicht merken konnten. Jeden Morgen wurde ich von ihnen mit „Buenas dias“ begrüßt; dafür sind die Kleinen aufgestanden. Einige kamen auch auf mich zugerannt und umarmten mich. Da gab es dann aber Ärger mit den Erzieherinnen, denn es gibt strenge Verhaltensregeln in Ecuador. Von den einheimischen Erzieherinnen wurden die Kinder sogar gesiezt; das war mir aber zu seltsam. Die Kleinen haben viel von ihren Eltern erzählt und mich über meine Familie befragt. Oft war das schwer zu verstehen, da sie noch sehr klein waren und undeutlich sprachen und nach sechs Wochen waren meine Spanischkenntnisse natürlich auch noch lückenhaft. Am häufigsten habe ich die Worte „Sientate!“ (Setz dich hin!), „Come!“ (Iss!) und „Cuidado!“ (Vorsicht!) gebraucht.
Es ist erstaunlich, wie glücklich diese Kinder scheinen, obwohl viele in sehr ärmlichen Verhältnissen aufwachsen müssen. Das Land gehört zu den ärmsten Südamerikas, die wirtschaftliche Ungleichheit in der Bevölkerung ist sehr groß. – Einmal pro Woche putzen die Kinder im Kindergarten nach dem Mittagessen ihre Zähne. Da die Waschräume zu klein für so viele Kinder sind, sitzen dann alle 30 draußen aufgereiht: Jeder bekommt seine Zahnbürste, einen Becher für Wasser und Pasta und dann wird geputzt. Das müsste allerdings viel regelmäßiger geschehen, denn einige haben leider schon sehr schlechte Zähne. Vor allem aber war es ein wunderbares Gefühl zu erleben, wie sehr sich diese Kinder über meine Anwesenheit freuten. Auch die beiden Erzieherinnen waren sehr freundlich. Jedoch hatten sie in einer Gruppe von 30 vierjährigen Kindern nicht die Möglichkeit, sich mit jedem einzelnen zu beschäftigen. Umso glücklicher waren die Kleinen, dass ich mir Zeit für sie nehmen konnte. Ein paar Minuten „Hoppe-Hoppe-Reiter“ reichten aus, um sie zum Strahlen zu bringen.
An den Wochenenden fand ich Zeit, dieses wunderbare Land näher kennenzulernen. – Quito liegt im Andenhochland (Sierra/Gebirge) auf 2850 m Höhe. In der Sierra leben heute 38 Prozent der 14 Millionen Ecuadorianer. Ecuador ist geografisch, topografisch und klimatisch eines der vielfältigsten Länder der Erde. Schon Alexander von Humboldt bemerkte vor 200 Jahren, dass die einzige Konstante in der Geografie Ecuadors seine Vielfalt sei. – Ich nutzte diese einmalige Chance und bestieg den Cotopaxi (5897 m), den höchsten aktiven Vulkan der Welt.
Humboldt schrieb im Jahre 1810 über diesen Vulkan: „Der Cotopaxi […] ist der höchste unter denjenigen Vulkanen der Anden, welche in neuern Zeiten Ausbrüche gemacht haben. Seine absolute Höhe beträgt 5,754 Meter, (2952 Toisen). Sie ist demnach doppelt so gross als die des Canigu, und achthundert Meters grösser, als die des Vesuvs seyn würde, wenn man ihn auf den Gipfel des Picks von Teneriffa stellte. Auch ist der Cotopaxi der gefürchtetste unter allen Vulkanen des Königreichs Quito, weil seine Ausbrüche immer am häufigsten und verwüstendsten waren.“
Ich stand auf dem „Mittelpunkt der Erde“ (Mitad del Mundo = Äquator), verbrachte vier Tage zwischen Schlangen, Spinnen, Affen und Raubkatzen im Dschungel, versuchte mich beim Surfen an der Pazifikküste, kletterte Wasserfälle hinab und besuchte typisch ecuadorianische Städte. Es waren unglaublich schöne und spannende Momente. Zu viele, um alle zu erzählen.
Dennoch, der Höhepunkt der Reise war für mich eine Woche auf den Galapagos-Inseln, die sich etwa 1000 km westlich der Küste im Pazifik befinden. Schnorcheln mit Haien, Sonnen inmitten einer Seelöwenkolonie und in unmittelbarer Nähe zu den urzeitlich anmutenden Waranen waren ein unvergessliches Erlebnis. – Warane gehören zu den intelligentesten Echsen. Manche Warane ernähren sich von Eiern, andere von Fleisch. Manche Arten fressen Wirbeltiere – je nach Größe – von kleinen Gliederfüßern bis zu Hirschen. Sie gelten teilweise als gefährlich, nicht zuletzt wegen des giftigen Speichels, den einige Waran-Arten bei der Jagd nutzen. Ich habe sie als eher langweilige Tiere erlebt, die den ganzen Tag nur in der Sonne lagen, ohne sich zu regen. Wenn sie sich sonnen, verbreitern sie oft ihren Rumpf, indem sie die Rippen spreizen. So können sie sich schneller aufwärmen. Aktiver habe ich da schon die Seelöwenbullen gesehen, wenn sie sich mit einem Rivalen um ein Weibchen stritten. – Die Natur auf den Galapagos-Inseln ist einmalig: Baumhohe Kakteen, strahlend blauer Himmel, azurblaues Wasser, lange Sandstrände ließen mich ans „Paradies“ denken.
In Quito ging es leider doch nicht ganz so paradiesisch zu. Am 30. September 2010 gerieten die Proteste von Soldaten und Polizisten gegen Lohnkürzungen außer Kontrolle. Der derzeitige Präsident Rafael Correa sprach von einem „Putschversuch“, nachdem Sicherheitskräfte den internationalen Flughafen Quitos besetzt und das Kongressgebäude gestürmt hatten. Die Regierung verhängte den Ausnahmezustand. Für uns bedeutete dies, nun noch vorsichtiger zu sein und am besten das Haus gar nicht zu verlassen. Quito zählt zwar zu den sichersten Hauptstädten Südamerikas, dennoch ist es auch dort gefährlich, nach 18 Uhr allein auf der Straße zu sein. Die fehlende Präsenz der Polizei war in dieser Zeit deutlich spürbar. Banken wurden ausgeraubt, Leute überfallen, Geschäfte geplündert. Das ganze Spektakel hielt zum Glück nur etwa drei Tage an, denn nachdem Ecuadors Nachbarn Peru und Kolumbien ihre Grenzen schlossen und die USA mit einem Abbruch der für Ecuador so wichtigen Beziehungen drohte, beruhigte sich die Lage langsam wieder. Dennoch wurden in den folgenden Tagen auch viele Volontäre ausgeraubt, was dazu führte, dass wir von da an noch stärker in unserer Bewegungsfreiheit eingeschränkt waren. Ab 18 Uhr fuhren wir nur noch mit dem Taxi – egal, ob in das etwas außerhalb des Zentrums gelegene Kino, in die Disko oder zu Freunden um die Ecke. Dies war für mich erst einmal ungewohnt, doch schnell gehörte es zum Alltag dazu. Ich war eben nicht in Europa. Wenn man sich an gewisse Sicherheitsmaßnahmen hielt, passierte einem nichts. Auch wenn diese oftmals nervend waren, werden die drei Monate, die ich in Ecuador verbringen konnte, ein unvergessliches, großartiges Erlebnis bleiben.
Gerade in ein Land wie Ecuador zu reisen, bringt eine völlig neue Sicht auf das Leben. Man lernt, für uns alltägliche Dinge zu schätzen – wie eine warme Dusche, die dort nicht selbstverständlich war, oder sich an den kleinen Dingen des Lebens zu erfreuen, da man mit eigenen Augen zu sehen bekommt, dass es vielen Menschen schlecht geht, diese aber doch glücklich sind. Ich empfehle jedem von euch, nach dem Abitur – wenn möglich – selbst eine solche Erfahrung zu sammeln! Es lohnt sich! Ich bin von Ecuador nach wie vor so begeistert, dass ich meine nächsten Auslandserfahrung mit „Praktikawelten“ im Januar 2011 begonnen habe. Nach Ecuador werde ich sobald wie möglich wieder fliegen, denn dort sehe ich nach diesen drei Monaten mein zweites Zuhause.
Wiebke Müller, Abi 2010
Lest mehr über „Praktikawelten“ – ganz unten auf unserer Website unter WISSENSWERTES.
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