Fremd, paradox, überwältigend: Indien

 

Varanasi. Betender Hindu im Ganges

Hannah und Karl haben 2010 ein sehenswertes Abitur an der Lenné-Schule abgelegt. Nach dem Abi haben sie gearbeitet, um Reisegeld zu verdienen und die Welt zu entdecken.
Ein Reisebericht von Hannah und Karl

PARADOXON INDIEN
Um es vorauszuschicken: An Reiseberichten nervt mich am meisten, dass sie für den Leser nicht nachvollziehbar sind. Aufgezählte Orte müssen mühsam nachgeschlagen werden, Anekdoten und Empfindungen können nicht im Geringsten vermittelt werden. Es fehlen die Temperatur auf der Haut, die Geräuschkulisse oder dieses Gefühl, wenn man von der völligen Fremde umgeben ist. Ich versuche es einmal so:
Meine Freundin und ich befinden uns in Indien. Genau genommen im Osten des Landes, in Varanasi. Es ist April, das Thermometer steigt tagsüber auf feuchte 39°C – Abgase nicht eingerechnet. Zwei Stunden vom Sonnenuntergang entfernt laufen wir in Richtung Ganges. Die Stadt ist am Rande des heiligsten aller Flüsse aufgebaut worden. Der Ganges bestimmt das alltägliche sowie religiöse Leben der Einwohner und Pilger. – Am Abend hat sich die Stadt in eine große, sich langsam fortbewegende Masse verwandelt. Man bahnt sich den Weg durch diverse Gerüche, verursacht von den heiligen Kühen, Müllbergen, menschlichem Schweiß. Und hindurch zwischen dicht gedrängten Ständen – beladen mit Essen wie Reis mit Curry oder Dhal oder allem und nichts – und Menschen. Inder, Inder und noch mehr Inder. Klar, wir könnten ein kleines motorisiertes oder menschenbetriebenes Taxi für einen Spottpreis ordern, aber die (Un)Massen von Menschen und Fahrzeugen erzeugen eine so hohe Dichte, dass diese ganze Masse eine Einheitsgeschwindigkeit annimmt.
Leicht genervt und stark verschwitzt erreichen wir das Wasser und verhandeln eine kleine Bootstour am Ufer entlang. Auf dem Boot langsam zur Ruhe kommend und aus veränderter Perspektive entwirrt sich besagte Masse zu einem (be)greifbaren Bild. Stufen ziehen sich hier über Kilometer am Ganges-Ufer entlang, Frauen mit bunten Tüchern reinigen sich, Kinder nehmen Schwimmunterricht. Hier scheint alles zur Ruhe zu kommen. Unser Bootsführer klärt uns auf, dass die Kolibakterienanzahl im Ganges 2000mal höher ist als in Indien erlaubt. Wir fragen ihn nach dem Grund und er zählt auf: Industrieabwasser, mangelnde Umweltauflagen und „Because of the corpses“. Ungläubig schauen wir ihn an. Im Hinduismus werden verstorbene Kinder, Schwangere, Lepra-Kranke und Priester nach gebührender Zeremonie mit Steinen beschwert und im Ganges bestattet. Da muss ich schon schlucken. – Hindus werden normalerweise verbrannt und ihre Asche wird in den Ganges gestreut. – Mein Blick fällt auf diesen einen bärtigen Mann. Er schließt die Augen und verharrt im Wasser. Ich kann den Blick nicht von ihm lassen. Er strahlt solch eine Ruhe und Konzentration aus.
Die Sonne ist untergegangen und unser Bootsguide setzt uns am Rande des bunten Getümmels ab. Wir fragen nach den erwähnten Verbrennungen und er beschreibt uns den Weg. Einen dunklen Uferweg verlassend, betreten wir einen – rückblickend – surreal wirkenden Ort. Die Atmosphäre ist schlagartig verändert und viele kleine Feuer erhellen die Dunkelheit. Ein Priester kommt auf uns zu und bittet uns ihm zu folgen. Für eine kleine Spende würde er uns alles erklären – das hört man oft als weißer Tourist. – Gläubige Hinduisten kommen zum Sterben nach Varanasi. Deswegen ist der Platz auch umstellt von Hospizen. Bei einem Todesfall wird der Tote zu Hause beweint und die männlichen Angehörigen müssen sich den Körper rasieren. Nur einen Lendenschurz tragend, tauchen sie den in ein Leinentuch gewickelten Korpus in den Ganges. Daraufhin muss dieser eine Stunde trocknen. Derweil bezahlen sie eine horrende Summe für Holz und die Dienste eines Priesters. Die Unberührbaren, welche die „Kastenlosen“ bzw. Unwürdigen der traditionellen indischen Gesellschaft bilden, schichten das Holz zu einer Art Scheiterhaufen. Der älteste Sohn entfacht das Feuer und muss solange bei der Verbrennung bleiben, bis der Brustkorb des Toten aufplatzt. Nur dann ist gewährleistet, dass die Seele die Erleuchtung findet. Geweint wird während der Zeremonie übrigens nicht, denn die Seele des Geliebten soll rein entweichen. Unberührbare streuen die Asche in den Ganges. Der Verstorbene hat nun die ewige Kette Geburt, Tod und Wiedergeburt durchbrochen und findet damit die Erlösung. Wir geben dem Mann das versprochene Geld und beobachteten die Verbrennungen eine Ewigkeit. Alles spielt sich immer gleich ab, es hat etwas von Akkord, die Verbrennungen nehmen kein Ende. Es herrscht hier kein Gefühl von Trauer. Dieser Ort wirkt für mich zeitlos und unverständlich, auch heute noch.
Meine Gefühle und Gedanken jenes Abends sind schwer zu beschreiben. Ich dachte viel über den Tod und meine eigenen Wertevorstellungen nach. Alles, was wir an dem Tag erlebten, war kurios und andersartig. Doch in diesem Gewusel der Andersartigkeit schien sich eine verworrene Logik zu befinden, die man als Außenstehender wohl nie verstehen wird. Man kann sie erahnen und sich für sie begeistern oder sie verabscheuen; ich kann beides nachvollziehen, aber nie ein Teil davon sein.
Das ist wohl Indien. Oder auch nicht.
Karl G., Abi 2010

Jaipur. Hannah und Karl vor dem Hawa Mahal, dem Palast der Winde

INDISCHE IMPRESSIONEN
Ich schiebe mich durch ein buntes Gewirr aus Menschen, wehenden Gewändern und Dreck. Es ist eng und es ist heiß, der beißende Geruch der schwitzenden Leiber um mich herum setzt sich fest in meiner Nase, in meinen Ohren das ständige Hupen der verrosteten Karren und Mopeds. Meine Augen sind überall; vor allem sind sie überreizt. Kommt das vom trockenen Staub oder von den tausend Farben, den tausend Bildern? Ich habe permanent Angst, dass ein Tuk-Tuk mir in die Kniekehlen fährt oder ich unter einem Kamelkarren lande. Ich muss Müllbergen ausweichen, die in der Sonne ebenso schwitzen und stinken wie wir Menschen. Mitten auf der Straße döst ein Rind, niemand scheint sich daran zu stören, außer die anderen Rinder vielleicht, die ihrem wiederkäuenden Artgenossen ausweichen müssen. Ich gelange auf einen kleinen Platz, der vollgestopft ist mit Händlern, die alle dasselbe verkaufen wollen. Kinder mit großen Kulleraugen voller Traurigkeit kommen auf mich zu, sie zupfen an meiner Hose, die eine Hand halten sie erwartungsvoll auf, die andere Hand nutzen sie, um das noch kleinere Kind auf ihrem Arm zu stützen. Ich gehe weiter, versuche das schlechte Gewissen, den Kindern nichts gegeben zu haben, zu verdrängen. – Ich habe schließlich gelernt, dass das nicht geht. Ich weiß nun, dass zu den Kulleraugen auf Knopfdruck schauspielerisches Können gehört, ich weiß aber vor allem, dass diese Kinderaugen nie lesen und schreiben lernen werden, wenn ihre Eltern sehen, dass sie als Bettler viel kostbarer und gewinnbringender als Schulkinder sind. Und ich denke an den westlichen Reichtum, ich denke an die ungerechte Verteilung von Lebensqualität und ich bin wütend, aber ich scheine die einzige zu sein. Die indischen Menschen um mich herum, von denen die Mehrheit hinduistisch ist, leben ihre Religion. Die besagt, dass du, wenn du arm bist, in deinem früheren Leben ein schlechter Mensch gewesen sein musst. Es ist Schicksal. Und ich verzweifle an der Bewegungslosigkeit, an der Gefangenschaft, die hinter dem Wort „Schicksal“ steht. Ein Inder spuckt neben mir den roten Saft der Betelnuss auf die Straße und mich überkommt Ekel. Der Gestank und das Elend widern mich an, alles widert mich an. Aber weniger Indien selbst als diese Welt.

Der frühmorgendliche Nebel liegt über Agra. Wie ein Schleier legt er sich über die Stadt und versteckt die Müllberge, auf denen Kühe schlafen. Die Menschen aber sind schon wach, Jungs toben über einen Platz und jagen einem Ball nach, und ich frage mich, warum sie nicht schlafen. Aber vielleicht ist dieser Moment, kurz bevor die Sonne aufgeht, einfach am schönsten, um zu atmen und zu leben, eben dann, wenn die Hitze und der Gestank, die Enge und das Elend noch nicht ganz erwacht sind. Wir stehen vor dem Tor und werden nicht die einzigen bleiben. Die Touristen, die mit uns anstehen, sind nicht wegen der Unschuld des Moments so früh auf, vielmehr wegen Indiens Wahrzeichen, der weißen Perle, dem Taj Mahal. Als die Tore geöffnet werden, packt mich innere Unruhe, ich bin aufgeregt und laufe schnell durch die großzügige Parkanlage, ich pilgere zum weißen Palast. Dann bin ich da. Der weiße Marmor strahlt. Die Sonne geht langsam auf und ich bin wie verzaubert. Dieses Bild der Vollkommenheit erfüllt mich mit Ehrfurcht, und es verdrängt auch die Bilder der heißen, anstrengenden Tage. Ich stehe auf einer Insel voller Reichtum inmitten eines Ozeans der Armut.

Jodhpur, die blaue Stadt Indiens liegt vor mir. Die kleinen Schachtelhäuser sind in den unterschiedlichsten Blautönen angemalt und machen die Stadt lebendig. Von dem Fort, einer alten Festungsanlage, mache ich mich auf den Weg bergab, in den Stadtkern. Die Straßen sind verwinkelt, jede Ecke lockt mit neuen Farben. Auf dem Marktplatz bieten Inder ihre Ware zum Verkauf, alles ist rings um den Uhrenturm arrangiert, der sich aus der Mitte majestätisch erhebt. Ich beobachte eine Kuh, die die kostbaren besenähnlichen Grasbündel eines Händlers auffrisst. Und ich frage mich, ob der Händler machtlos ist gegen dieses heilige Tier? Doch da kommt er auch schon angestürmt und vertreibt die Kuh mit festen Schlägen. Geld scheint auch hier heiliger zu sein als alles andere. Ich ziehe mich zurück auf den Vorplatz, gehe vorbei an dem berühmten Omelette-Mann, der sogar schon in deutschen Zeitungen für seine unschlagbare Eierspeise gepriesen wurde. Ich gelange zu einem kleinen Gewürzladen und betrete ihn, meiner Nase folgend. In dem kleinen Raum duftet es nach Anis, nach Zimt und Ingwer. Ich werde von einer kleinen indischen Dame begrüßt, die so herzlich lacht, dass ich mich sogleich wohlfühle. Sie zeigt mir ihren Laden und ihre duftenden Kostbarkeiten und besteht darauf, mir zu zeigen, wie man den typisch indischen Chai Tee zubereitet. Gespannt schaue ich ihr über die Schulter, blicke in den verbeulten alten Topf, in dem die bräunliche Flüssigkeit aufblubbert. Ich koste den Tee und finde, er schmeckt wie sein Land: Anfangs das leichte Brennen von Ingwer im Hals, dann die weichere Note von Zimt, der süße Zucker und zurück bleibt im Mund der geheimnisvolle Geschmack des Kardamom. Das Geheimnis von Indien bleibt in meinem Herzen zurück.
Hannah H., Abi 2010

Weitere interessante Indien-Fotos siehe Link am Ende der Seite.

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